Mensch im Mittelpunkt. Glaube.

‘Glaube ist nicht der Anfang, sondern das Ende allen Wissens’, sagt Johann Wolfgang von Goethe. In der heutigen Zeit werden Glauben und Wissen jedoch manchmal als Gegenstück angeschaut. Aber können wir überhaupt wissen, ohne zu glauben? Oder glauben, ohne etwas zu wissen? In der neurokognitiven Wissenschaft geht man davon aus, dass eher rationale Entscheidungen im sogenannten Präfrontalkortex gefällt werden. Die Informationen, die dort hingelangen, werden aber bereits ausgewählt und bewertet vom emotionalen Kortex. Mit anderen Worten: Bevor eine Information in unser Bewusstsein gelangt, hat sie schon eine emotionale Färbung erhalten. Diese emotionale Vorauswahl ist wichtig, damit wir gewichten können und von der Datenflut nicht erschlagen werden. Gleichzeitig zeigt sich daran aber auch, dass wir mehr emotionale als vernünftige Wesen sind. Oder: dass wir zuerst glauben, und dann wissen.
Glaube ist für mich viel mehr als nur die Gretchenfrage: ‘Wie hast du’s mit der Religion?’. Glaube ist auch das Wissen darum, dass unser Horizont beschränkt ist und wir niemals alles wissen oder verstehen können – jenseits dieser Wissensgrenze übernimmt der Glaube. Denn letztendlich sind die existenziellen Fragen ungeklärt: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und warum sind wir eigentlich hier? Bei meiner Arbeit habe ich viel mit diesen Fragen zu tun, weil ich oft Menschen aus dem Leben scheiden sehe. Dass dabei neben all den medizinischen Fragen die wichtigste Frage ungeklärt bleibt, nämlich: wohin geht dieser Mensch jetzt? schafft ein gemeinsames Erleben, das für mich ein Hauch des Jenseits in sich trägt. Und was bleibt, ist das Gefühl, dass das Hier und Jetzt unendlich kostbar ist.
Ich persönlich bin der Meinung, dass wir besser fahren, wenn wir akzeptieren, dass wir nicht nur vernünftig sind, sondern eben auch emotional. Und je nach emotionalem Kontext ist unsere rationale Welt eine andere. Darum gibt es auch nicht so etwas wie einen gesunden Menschenverstand. Denn gesunde Menschen entscheiden aus ihrem individuellen emotionalen Kontext, was für sie die rationale Schlussfolgerung ist. Dass hier dennoch nicht beliebig viel Spielraum besteht, habe ich in meinem Blog-Beitrag zum Thema ‘Wissen’ bereits zu erläutern versucht.
Für die Politik bedeutet das, dass hinter einer anderen Meinung ein anderer emotionaler Kontext steht. Möchte man die andere Meinung verstehen, muss man in die emotionalen Schuhe des Gegenübers schlüpfen, und dann versteht man auch die vorher vielleicht unverständlichen Worte. Und wenn die Schuhe nicht passen, dann bleiben eben die Welten getrennt. Dass man seine eigenen Argumente die logischsten findet, hat nur damit zu tun, dass sie eben dem eigenen Kontext entsprechen. Dies gibt niemandem das Recht, andere zu verunglimpfen.