Mensch im Mittelpunkt. Liberalismus.

“Denn wie bei einem Spiel verliert derjenige, der gar nicht erst die Möglichkeit zur Teilhabe im Sinne der „equal opportunity“ hat, sehr schnell die Lust auf das Spielen. Auf die Gesellschaft übertragen bedeutet das, dass niemand von vornherein ausgeschlossen sein darf, sondern zumindest die Bedingungen erfüllt sein müssen, damit alle Menschen teilhaben können.” Dies ist ein Zitat von peira.org über den Sozialliberalismus der Piratenpartei, 30.08.21. Liberal zu sein gehört von der Piratenpartei bis zu den Freunden der Verfassung zum Selbstverständnis, obwohl teilweise der Eindruck aufkommt, dass nahezu Gegenteiliges damit gemeint ist. Auch ich bezeichne mich als liberal. Was ich darunter verstehe: Ich möchte jedem Menschen ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zugestehen. Liberal ist das Gegenteil von autoritär. Aber liberal ist auch klar abzugrenzen von Anarchismus. Denn um maximal frei zu sein, braucht es nicht nur ein ‘laissez-faire’, sondern auch einen starken Rechtsstaat: Die Freiheit des Individuums muss nicht nur einfach zugelassen, sondern auch verteidigt werden. Und dazu kommt noch ein dritter Aspekt: Die Freiheit muss ermöglicht werden: Nur wer um seine Freiheiten weiss, kann sie auch nutzen. Und nur wer ein Leben leben kann, welches auch Entscheidungsfreiheit zulässt, kann selbstbestimmt leben.
Wichtige Säulen der Selbstbestimmung sind finanzielle und zeitliche Ressourcen, Bildung und Gesundheit: Wer lange Arbeitstage hat und dabei einen Lohn verdient, welcher knapp die Lebenshaltungskosten deckt, für den ist die Freiheit nur ein theoretisches Konstrukt. Denn es besteht kein finanzieller oder zeitlicher Spielraum. Wer in einer armen Familie gross wird, wird zu einer verschwindend kleinen Wahrscheinlichkeit selber wirtschaftlich Erfolg haben – die soziale Durchlässigkeit ist in der Schweiz trotz aller Bemühungen um Chancengleichheit schlechter, als wir uns eingestehen wollen. (BfS, Maturaquoten im Aargau, 2020). Auch das schränkt die Freiheit, sich gesellschaftlich zu beteiligen, ein. Die Rolle des Staates sehe ich somit als Garant und Ermöglicher maximaler individueller Freiheit.
Aber dürfen wir dafür den Bürger*innen Geld abknöpfen, besonders den Vermögenden? John Rawls, ein berühmter Philosoph der sozialliberalen Position, vertritt die Meinung, dass dies nur dann zulässig ist, wenn dieses Geld für die Gesellschaft als Ganzes einen Mehrwert schafft. Der Historiker und Wirtschaftsprofessor Thomas Piketty konnte mit seinen akribisch gesammelten Steuerdaten beweisen, dass es der Gesellschaft als Ganzes nicht besser geht, wenn man Mitleid mit den Reichsten walten lässt: denn ein starker Staat und ein erträgliches Mass an sozialer Ungerechtigkeit dient auch den Reichsten.
Als Ärztin sehe ich tagtäglich, wie die Lotterie des Lebens spielt. Auf diese Ungleichbehandlung durch das Schicksal müssen wir eine Antwort bereit haben, wenn wir nicht die kranken Menschen aus der Gesellschaft ausschliessen wollen. Und diese Antwort heisst ein starkes, fair finanziertes Gesundheitssystem. Ja, vor Ausnutzung müssen wir uns schützen, denn die Leistung, die hier erbracht wird, ist alles andere als gratis. Das Gesundheitswesen muss denjenigen Menschen offen stehen, die es wirklich brauchen. Fehlanreize, die das System teuer machen, den Menschen aber nichts bringen, müssen bereinigt werden. Aber das ist ein anderes Thema.
In der Politik finde ich es manchmal erstaunlich, dass die wirtschaftsliberale Position sich stets für einen Sparkurs einsetzt, aus welchem schlussendlich eine Schwächung des Staates resultiert. Wenn wir den Staat zu Tode sparen, enden wir im Feudalismus oder Anarchismus. Beides steht im Widerspruch zu einer liberalen Gesellschaftsordnung. Die Stärkung eines Staates, der dem Individuum die besten Bedingungen für maximale individuelle Entscheidungsfreiheit einräumt, sollte für jede liberale Position die Maxime sein.